Vergiss nicht

Herausgerissen

Mit blutverschmierten Armen und Beinen lag ich völlig apathisch auf dem Boden meines Zimmers und dachte über das, was eben geschehen ist, nach. Die Tage, an denen alles Spass machte, gehören längst der Vergangenheit an. Ich brauche Heroin, nur um einigermassen über die Runden zu kommen. Die Stimme meines Bruders Ruedi reisst mich aus meiner Gedankenwelt: „Spinnst du eigentlich? Du wirst wohl der Nächste sein, den wir irgendwo tot auflesen!“ Er schrie mich an. Aber warum eigentlich? Er nahm ja selber Drogen und war mindestens so abhängig und gefährdet wie ich.

Doch er hatte schon recht, in diesen Oktobertagen nahm mein Lebenswille mit jedem Tag etwas mehr ab. Ich hatte gerade einen Zwangsentzug vom Methadon hinter mir. Nichts wurde aus dem Traum, dass man mit diesem Medikament quasi ein ganz normales Leben führen könne. Seit ich aus der psychiatrischen Klinik entlassen worden war, plagten mich nur noch selbstmörderische Gedanken. Ich konsumierte unkontrolliert alles an Drogen, was mir in die Hände fiel. So kam es öfters vor, dass ich zu viel nahm. Und wenn ich anschliessend irgendwo wieder aufwachte, ärgerte ich mich darüber, dass ich noch am Leben war. Gerade versuchte ich, mir Heroin zu spritzen. Wegen meiner schlechten psychischen Verfassung sowie der physischen meiner Venen stocherte ich völlig unkontrolliert an meinem Körper herum. Ruedi verliess wütend das Zimmer, und mich überfiel eine unbeschreibliche Ausweglosigkeit. Ich lag blutverschmiert am Boden und fragte mich: „Wie konnte es nur so weit kommen?“

Es gab zwei, drei Momente in meinem Leben, in denen ich zutiefst über mich selber erschrak; dieser war einer davon. Doch was sollte ich machen? Wir, das heisst meine beiden Brüder (Heinz und Ruedi) und ich, waren seit mehreren Jahren drogenabhängig. Durch die Drogensucht schon stark gezeichnet, war unsere Zukunftsperspektive wohl Gefängnis, Spital und ein viel zu früher Tod. Seit 1970 waren unsere Eltern geschieden. Unsere Mutter musste mit der Tatsache, dass ihre Söhne Drogen nahmen, irgendwie klar kommen. Meine Brüder sind inzwischen an den Folgen ihrer Sucht gestorben. Dass mich nicht das gleiche Schicksal treffen würde und ich noch ein völlig anderes Leben vor mir hatte, davon hätte ich in diesen Oktobertagen 1979 nicht zu träumen gewagt. Doch fangen wir ganz von vorne an.

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